Die EU-Kommission wird Anfang Dezember 2021, womöglich noch vor einer neuen deutschen Bundesregierung, Atomkraft offiziell als grün und nachhaltig einstufen und in die EU-Taxonomie aufnehmen – eine Art Ampel für grüne Investments und für EU-Fördergelder, mit denen auch grüne Anleihen gefördert werden sollen, wie Business Leaders berichtete.

Genau genommen den Bau und Betrieb der Kernkraftwerke. Uranabbau und -aufbereitung sollen als „ermöglichende“ Technologie gelten, ebenso die Suche und der Betrieb von Atommüll-Endlagern und die Wiederverwertung von nuklearem Brennmaterial.

Danach müssen EU-Rat und EU-Parlament noch jeweils ihre Zustimmung geben – was voraussichtlich geschehen wird, da die Kernkraft-Befürworter in Brüssel in der Mehrheit sind.

Das AKW Grohnde in Niedersachsen (Inbetriebnahme 1984) soll im Dezember 2021 endgültig vom Netz gehen. Bis zum Jahr 2040 soll der Abriss abgeschlossen sein. Im Schnitt generierte das Kraftwerk Grohnde an der Weser pro Jahr rund 11 Milliarden kWh Strom. Damit versorgte es knapp drei Millionen 3-Personen-Haushalte ein Jahr lang mit Elektrizität. Das Kernkraftwerk deckte somit rund 15% der Stromerzeugung in Niedersachsen. Klimaschutz: Jedes Jahr produzierte das Kernkraftwerk Grohnde rund 11 Milliarden kWh Kohlendioxid- armen Strom. Somit ersparte es der Umwelt knapp 10 Millionen Tonnen CO2 jährlich und leistete damit einen nachhaltigen Beitrag zum Klimaschutz ©  Pressefoto PreussenElektra GmbH aus Hannover, einer Tochter der E.ON SE aus Essen
Das AKW Grohnde in Niedersachsen (Inbetriebnahme 1984) soll im Dezember 2021 endgültig vom Netz gehen. Bis zum Jahr 2040 soll der Abriss abgeschlossen sein. Im Schnitt generierte das Kraftwerk Grohnde an der Weser pro Jahr rund 11 Milliarden kWh Strom. Damit versorgte es knapp drei Millionen 3-Personen-Haushalte ein Jahr lang mit Elektrizität. Das Kernkraftwerk deckte somit rund 15% der Stromerzeugung in Niedersachsen. Klimaschutz: Jedes Jahr produzierte das Kernkraftwerk Grohnde rund 11 Milliarden kWh Kohlendioxid- armen Strom. Somit ersparte es der Umwelt knapp 10 Millionen Tonnen CO2 jährlich und leistete damit einen nachhaltigen Beitrag zum Klimaschutz ©  Pressefoto PreussenElektra GmbH aus Hannover, einer Tochter der E.ON SE aus Essen

Deutschland, das seine noch verbliebenen sechs Atomkraftwerke Ende diesen Jahres (Grohnde in Niedersachsen, Grundremmingen in Bayern und Brokdorf in Schleswig-Holstein) beziehungsweise bis Ende 2022 (Landshut in Bayern, Emsland, Neckarwestheim in Baden-Württemberg) vom Netz nehmen will, wird den EU-Beschluss nicht verhindern können.

Für ein Nein wären 20 Stimmen der 27 EU-Länder nötig. Deutschland kann aber nur auf die Unterstützung Österreichs, Luxemburgs, Dänemarks und Portugals zählen.

Sie unterzeichneten am 11. November 2021 in Glasgow ein entsprechendes Positionspapier. Eine Blockade ist damit nicht möglich.

Das bestätigte auch Angela Merkel

 EU-Taxonomie: Ist ein Drehbuch für einen Kompromiss besprochen worden? Frankreich will Atommeiler. Deutschland Nordstream 2 und Gas. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und die scheidende deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel schauten sich im Rahmen eines gemeinsamen Abendessens am 3. November 2021 in Beaune in Frankreich tief in die Augen © Twitter.com/emmanuelmacron vom 4. November 2021

EU-Taxonomie: Ist ein Drehbuch für einen Kompromiss besprochen worden? Frankreich will Atommeiler. Deutschland Nordstream 2 und Gas. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und die scheidende deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel schauten sich im Rahmen eines gemeinsamen Abendessens am 3. November 2021 in Beaune in Frankreich tief in die Augen © Twitter.com/emmanuelmacron vom 4. November 2021

Die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel (67, CDU) aus Berlin hat den Kampf praktisch verloren gegeben. Der Vorschlag der Kommission sei ein sogenannter delegierter Rechtsakt und könne daher nur abgelehnt werden, wenn Deutschland 19 weitere EU-Staaten an seiner Seite hätte. „Das ist eine sehr hohe Hürde und ist voraussichtlich nicht der Fall“, sagte Merkel kürzlich in einem Interview mit der Nachrichtenagentur REUTERS.

Auf der Seite Frankreichs stehen Finnland, Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei, außerdem Slowenien, Kroatien, Rumänien und Bulgarien sowie die Mittelmeerländer Griechenland, Malta und Zypern. Neun EU-Länder haben sich noch nicht positioniert.

Selbst wenn die sich auf die Seite von Deutschland schlagen würden, kämen sie nicht auf die nötigen 20 NEIN-Stimmen, sondern nur auf 14 Stimmen.

Viele Europäer wollen die Atomkraft tatsächlich zu einem Teil der künftigen Klimapolitik machen

Paris will Atom-Meiler modernisieren und neue bauen. Und mit dem grünen Siegel wird es für den französischen Staatskonzern EDF billiger, sich das nötige Geld an den Finanzmärkten zu beschaffen. Der Nuklearindustrie hat die französische Regierung zwar kürzlich eine Milliarde Euro an staatlicher Unterstützung zugesagt. Paris setzt aber auch auf private Investitionen in die Atomkraft – die durch einen Ausschluss in der Taxonomie gefährdet wären.

Atomkraft spielt in Frankreich eine Schlüsselrolle bei der Dekarbonisierung der Wirtschaft und der Herstellung von klimaneutralem Wasserstoff.

EU-Taxonomie Atomkraft: Für Frankreich Zukunftstechnologie

Bestätigt sieht sich die Regierung in Paris durch eine Analyse des Stromnetzbetreibers RTE, der mehrere Szenarien für Frankreichs Energieversorgung im Jahr 2050 durchgespielt hat. Das Resultat: Die Gesamtkosten für einen Umbau auf ausschließlich erneuerbare Energien lägen deutlich höher als bei einem Strommix mit Kernkraft.

Die französische Regierung will daher neue Kraftwerke bauen und die Entwicklung neuartiger Minireaktoren vorantreiben, die sogenannten Small Modular Reactors (SMR).

Nicht nur in Frankreich finden viele, dass Kernenergie die Erneuerbaren gut ergänzen und zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen würde: Strom aus Reaktoren sei erstens billig zu haben und verursache zweitens kein Kolendioxid.

Das Problem mit der Atommüll-Lagerung könnte auch bald gelöst sein. Finnland baut das erste Endlager der Welt.

Gegen EU-Taxonomie Atomkraft: Deutschland im Abseits

Deutschland erzeugte 2020 laut Our World in Data nur 11,33 Prozent seines Stroms aus Kernenergie, Frankreich dagegen 67,21 Prozent.

Die atomkritischen Deutschen schädigten allerdings 2019 laut Our World in Data mit 8,4 Tonnen Kohlendioxid pro Kopf deutlich mehr das Klima als die atomverliebten Franzosen, die es bei 4,97 Tonnen beließen.

Der Strom kostete im ersten Halbjahr 2021 laut Eurostat in Deutschland 32 Cent pro Kilowattstunde, in Frankreich nur 19 Cent pro Kilowattstunde.

Die deutschen Strompreise würden in Frankreich eine Revolution auslösen

Im April 2022 will Emmanuel Macron (43, aus dem Élysée-Palast in Paris, er gründete 2016 die Partei „Republik in Bewegung“) wiedergewählt werden. Wie schnell höhere Energiepreise die Stimmung in Frankreich verderben können, hat er bei den Gelbwesen-Protesten im Winter 2018/19 gelernt. Damals wollte Macron zu Zwecken des Klimaschutzes 7 Cent auf den Lieter Diesel aufschlagen. Als auf den Champs Élysées Barrikaden loderten, ließ er davon ab.

Deutsche Umweltpolitiker preisen die sogenannte Lenkungswirkung teurer Energie und stoßen laut Umfragen auf Gegenliebe

Der Einzelne, das schwingt da mit, soll sich im Zweifel fügen. Nur so gelinge das große Ganze. Viele Bundesbürger sehen es tatsächlich so und bitten die Obrigkeit laut Umfragen etwa bei Tempolimit und CO2-Zuschlägen sogar um noch mehr Strenge.

In Frankreich dagegen rumort es stärker von unten her, ganz diffus, ohne dass die Unzufriedenen Anspruch erheben auf besondere intellektuelle Brillanz.

Macron weiß Bescheid. Anfang November 2021 ließ er jedem geringverdienenden Franzosen „zur pauschalen Abgeltung gestiegener Energiepreise“ einmalig 100 Euro überweisen.

Lenkungswirkung? Macron will vor allem, dass eine Lenkung der Wähler nach ganz rechts in Richtung Marine Le Pen (53, Nationale Sammlungsbewegung, Rechtsanwältin in Paris) verhindert wird.

„Hinzu kommt noch etwas anderes, Größeres,“ schätzt Matthias Koch von der Ostsee-Zeitung ein

Koch: „Macron empfindet sich als wichtigsten Politiker Europas. Seit dem Austritt der Briten ist er der einzige EU-Staatschef, der über Atomwaffen gebietet. Und nach dem Abschied Merkels wird er es sein, der auch auf der innereuropäischen Klaviatur der Macht wie kein Zweiter zu spielen versteht.“

Ein Beispiel ist Griechenland, das ihn in Sachen Atomkraft unterstützt, obwohl das Land wegen häufiger Erdbeben in seiner Region auf Atomkraft verzichtet.

Im Sommer 2021 hat es eine nie dagewesene Annäherung von Frankreich und Griechenland auf dem militärischen Feld gegeben.

Nun erklärte die Regierung in Athen, dass es Griechenland wichtig ist „dass andere Länder an der Nutzung nuklearer Techniken nicht gehindert werden.“

Viele EU-Partner halten es für bizarr, dass Europas größte Volkswirtschaft 2022 die letzten Atommeiler abschaltet, obwohl die Lücke nicht mit erneuerbaren Energien geschlossen werden kann. Die Folge ist schlicht, dass Deutschland weiter den Klimakiller Kohle verfeuern muss und abhängiger wird von russischem Gas und Atomstromimporten aus Frankreich. So gesehen dient es sogar deutschen Interessen, dass Paris seine Atommeiler modernisiert.

Haben Merkel und Macron ein Drehbuch besprochen? Für Frankreich grüne Atommeiler – für Deutschland Nordstream 2 mit grüner Brückenenergie Gas?
 Innige Umarmung von Angela Merkel und Emmanuel Macron bei ihrem Freundschaftsbesuch im französischen Burgund am 3. November 2021, wo ihr Macron das Großkreuz der französischen Ehrenlegion (die höchste Ehrung Frankreichs) verlieh. Die Auszeichnung gilt Merkels besonderem Einsatz für die Beziehungen beider Länder. Sie spiegelt die besonders vertrauensvolle und gute Zusammenarbeit zwischen der Kanzlerin und dem französischen Präsidenten © Bundesregierung

Innige Umarmung von Angela Merkel und Emmanuel Macron bei ihrem Freundschaftsbesuch im französischen Burgund am 3. November 2021, wo ihr Macron das Großkreuz der französischen Ehrenlegion (die höchste Ehrung Frankreichs) verlieh. Die Auszeichnung gilt Merkels besonderem Einsatz für die Beziehungen beider Länder. Sie spiegelt die besonders vertrauensvolle und gute Zusammenarbeit zwischen der Kanzlerin und dem französischen Präsidenten wider © Bundesregierung

Fest steht: Die geschäftsführende deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Staatspräsident Emmanuel Macron haben in der Nacht vom 3. November 2021 auf den 4. November 2021 auf Einladung Macrons bei einem gemeinsamen Abendessen im Weinort Beaune lange zusammengesessen. Es gab Burgunder.

Die neue nukleare Spaltung Europas, zumindest darin stimmen Berlin und Paris offenbar überein, soll nicht mit einem Knall verbunden sein, sondern leise ablaufen, avec élégance (stilvoll mit Eleganz).

Niemand aus dem EU-Establishment will Macron vor dessen Wahlen im April 2022 in die Quere kommen. „Der hat jetzt einfach ein paar Wünsche frei“, heißt es aus dem Umfeld der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (63, Christdemokratin, wohnt im Brüsseler Amtssitz Berlaymont).

Brüsseler Routiniers arbeiten an einer großen energiepolitischen Paketlösung: Atomkraft und Gas als Technologien des Übergangs einstufen

In der EU-Kommission heißt es, dass Kern- und Gaskraftwerke lediglich als zeitlich befristete Übergangstechnologien eingestuft würden.

Und das nur unter strengen Bedingungen. So müssten die Investitionen in Anlagen modernster Bauart erfolgen und ehrgeizige Grenzwerte beachtet werden.

Außerdem müssten Öko-Fonds klar erkennbar darüber informieren, ob sie ausschließlich Aktien und Anleihen von Unternehmen aus der grünen Untergruppe beinhalten oder auch Papiere von Gas- und Kernkraftfirmen aus der Übergangsgruppe.

Zudem müssen Anleger, die sich für Öko-Finanzprodukte interessieren, vor dem Kauf gefragt werden, ob sie klassisch grün oder grün plus Nuklear oder Gas in ihrem Depot wünschen. Es liegt dann also in der Hand der Investoren, wie sehr die Atombranche von grünem Anlegergeld profitieren wird.

Wenn die Atomfreunde, mit Frankreich und Polen an der Spitze, es schaffen, eine positive Einordnung der Kernkraft in die EU-Taxonomie hineinzuverhandeln, könnten sie im Gegenzug den Deutschen freie Hand geben, ihre Gaspipeline Nord Stream 2 nach Herzenslust aufzudrehen.

Ursula von der Leyen will beides

„Wir brauchen mehr erneuerbare Energien“, schrieb sie in einem Tweet. „Wir brauchen auch eine stabile Quelle, Kernkraft, und während des Übergangs Gas.“

Macron und sein Atomglück

„Frankreich hat Glück, denn Frankreich hat Atomkraft“, sagte Emmanuel Macron. Als er am 12. Oktober 2021 sein Programm „Frankreich 2030“ vorstellte, gab er als „Ziel eins“ aus: Die Förderung „kleiner, innovativer Kernreaktoren“. Auf diesem Feld, orakelte Macron, müsse Frankreich, „das Spiel ganz neu eröffnen“.

Berlin reagierte mit stummer Verwunderung

Gegen Paris will in Zeiten, in denen man sich gerade mehr Unabhängigkeit Europas von China und den USA wünscht, niemand etwas sagen. Das sehen auch die künftigen Ampelkoalitionäre so – und schweigen.

Denn Olaf Scholz (63) aus Potsdam, SPD-Bundeskanzlerkandidat und geschäftsführender Vize-Kanzler und geschäftsführender Bundesfinanzminister, würde sich dann als neuer Kanzler in einer ersten Amtshandlung gegen Paris stellen müssen.

Matthias Koch von der Ostsee-Zeitung kommentierte: „Verlockender wäre es, den Zug durchrauschen zu lassen – und achselzuckend von einer neuen Lage zu sprechen, die sich leider nicht mehr ändern lasse: Alles eine Altlast der Ära Angela Merkel.“

Einzig Sven Giegold (52) aus Düsseldorf und Brüssel, Grünen-Abgeordneter im Europaparlament, sammelt Unterschriften

Seine Zielmarke hat er fast erreicht. Mehr als 66.000 Unterschriften hat der Europa-Politiker Giegold gesammelt, 75.000 sollen es werden. Mit der virtuellen Petition stemmt sich der Grünen-Politiker dagegen, dass Investitionen in neue Atom- und Gaskraftwerke in Europa künftig als klimafreundlich gelten. Vor einer „fatalen Weichenstellung“ warnt Giegold: „Es droht der Super-Gau für Europas Energie-Wende.“

Die Chance, die EU-Taxonomie Atomkraft aufzuhalten, schwindet allerdings – egal wie viele Unterschriften noch dazukommen. (FM)