Gefangenenarbeit ist in 12 der 16 Bundesländer Pflicht. Nur in Brandenburg, Sachsen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland ist sie freiwillig. Geht es dabei fair und sozial zu?

Gefangenenarbeit in der Werkhalle einer Justizvollzugsanstalt in Sachsen-Anhalt © Justizministerium Land Sachsen-Anhalt
Gefangenenarbeit in der Werkhalle einer Justizvollzugsanstalt in Sachsen-Anhalt © Justizministerium Land Sachsen-Anhalt

Konzerne wie der baden-württembergische Gartengerätehersteller Gardena GmbH aus Ulm, der Türhersteller Hörmann KG mit Sitz im ostwestfälischen Steinhagen, der Waschmaschinenhersteller Miele & Cie. aus Gütersloh in NRW oder der Flugzeugtriebwerkshersteller MTU Aero Engines AG mit Sitz in München – sie alle nutzen Gefangenenarbeit. Sie sparen zwar Urlaubs- und Krankengeld, aber sie zahlen den Justizvollzugsanstalten immerhin einen Preis, der dem Tarif- oder Mindestlohn entspricht.

Doch die Gefangenen bekommen für die Gefangenenarbeit nur 1 bis 2 Euro pro Stunde ausbezahlt.

Gefangenenarbeit in der Tischlerei der JVA Burg © Justizministerium Land Sachsen-Anhalt
Gefangenenarbeit in der Tischlerei der JVA Burg © Justizministerium Land Sachsen-Anhalt

Bei den Gefangenen kommt nur ein Bruchteil an. Dazwischen steht Papa Staat. Rechnet man nur den Mindestlohn, müssten einem Häftlingsarbeiter in Vollzeit am Tag 70 Euro bzw. 1.400 Euro im Monat ausbezahlt werden. Doch die Justiz zahlt lediglich zwischen 10 und 18 Euro pro Tag aus. Ein Vollzeit-Gefangenenarbeiter verdient so rund 450 Euro im Monat.

Und: Der Staat führt keinen Cent an die Rentenversicherung der Inhaftierten für ihre Gefangenenarbeit ab.

Das Problem betrifft inzwischen tausende Ex-Häftlinge. Das ARD-Magazin Plusminus hat einen von ihnen getroffen, der wegen eines schweren Verbrechens 23 Jahre in Haft war. Davon hat er 21 Jahre gearbeitet – und wie alle anderen nichts in die Rentenkasse gezahlt.

Sein Rentenanspruch von früher beträgt 126 Euro.

„Das bedeutet für mich, dass ich mein Leben lang auf den Staat angewiesen bin. Also auf die Grundsicherung“, erzählt er uns. „Ich habe körperlich wirklich sehr hart gearbeitet. Und man hat dann seine Haftzeit abgesessen. Und dann sieht man, es ist nichts in die Rente eingezahlt. Dann fühle ich das als doppelte Bestrafung.“ Denn seine Strafe war die Haft, nicht lebenslange Armut.

NRWs Justizminister und Christdemokrat Peter Biesenbach, übrigens mit seinen 73 Jahren Deutschlands ältester Justizminister, findet diesen Zustand richtig.

Hardliner Peter Biesenbach (73, CDU), Justizminister von Nordrhein-Westfalen © Land NRW/R. Sondermann
Hardliner Peter Biesenbach (73, CDU), Justizminister von Nordrhein-Westfalen © Land NRW/R. Sondermann

„Es geht nicht darum, dem Häftling möglichst viel zu zahlen“, argumentiert NRW-Justizminister Peter Biesenbach. „Sondern Ziel ist, den Häftling dazu zu bringen, nachher ein soziales Leben zu führen. Und das straffrei.“

Resozialisierung durch Niedriglohn in der Gefangenenarbeit?

Zynisch, findet das Dr. Thomas Galli. Der ehemalige Gefängnisleiter stieg vor fünf Jahren aus. Er wollte das System nicht mehr mittragen.

Dr. Thomas Galli, Rechtsanwalt in Augsburg für Vollzugsstrafrecht, war 15 Jahre lang in leitenden Funktionen in deutschen Gefängnissen, 2016 stieg er aus, weil er das System nicht mehr mittragen wollte und schrieb 2019 das Buch „Endstation Knast“ © Amazon.de
Dr. Thomas Galli, Rechtsanwalt in Augsburg für Vollzugsstrafrecht, war 15 Jahre lang in leitenden Funktionen in deutschen Gefängnissen, 2016 stieg er aus, weil er das System nicht mehr mittragen wollte und schrieb 2019 das Buch „Endstation Knast“ © Amazon.de

Heute ist Dr. Galli Rechtsanwalt für Vollzugsstrafrecht in Augsburg und ein scharfer Kritiker: „In Deutschland ist es tatsächlich so, dass die Resozialisierung faktisch eine untergeordnete Rolle spielt. Im Strafvollzug geht es immer noch primär darum, dass die Straffälligen ihre Schuld verbüßen. Daran wird die Länge des Strafvollzugs bemessen.“

Hinzu kommt: Gefangene können Waren des täglichen Bedarfs nur überteuert kaufen.

Ex-Häftling Christian aus NRW erinnert sich: Für Bananen hätte er in der JVA „vielleicht ein Drittel mehr bezahlt“ als jetzt draußen beim Billigdiscounter. Und tatsächlich. Vergleicht man die Einkaufsliste der Justizvollzugsanstalt Werl mit den Durchschnittspreisen im Supermarkt kommt raus:

Das günstige Wasser kostet fast 80 Prozent mehr, Cola 25 Prozent, eine Packung Salami ebenfalls 25 Prozent. Das Ergebnis: 17 der 20 Produkte sind teurer. Nur drei Mal ist der Preis gleich oder niedriger.

Wie kommt das?

Marktführer unter den deutschen Gefängnislieferanten: Werner Massak (65) aus Schammelsdorf, Mehrheitseigner und Geschäftsführer der Massak Logistik GmbH aus Litzendorf bei Bamberg in Bayern © Stadt Bamberg/Betriebsstättenbesuch bei Massak Logistik durch die stadteigene Graf-Stauffenberg Wirtschaftsschule am 20. Januar 2020
Marktführer unter den deutschen Gefängnislieferanten: Werner Massak (65) aus Schammelsdorf, Mehrheitseigner und Geschäftsführer der Massak Logistik GmbH aus Litzendorf bei Bamberg in Bayern © Stadt Bamberg/Betriebsstättenbesuch bei Massak Logistik durch die stadteigene Graf-Stauffenberg Wirtschaftsschule am 20. Januar 2020

Die Preise bestimmen die Händler, die recht frei kalkulieren dürfen. Der größte ist Werner Massak (65) aus Litzendorf Ortsteil Schammelsdorf bei Bamberg in Bayern. Sein Litzendorfer Unternehmen Massak Logistik GmbH, das er zusammen mit seinem Sohn Boris Massak (36) aus Memmelsdorf führt, dem 25 Prozent gehören, beliefert rund 130 Justizvollzugsanstalten – etwa zwei Drittel aller Gefängnisse in Deutschland. Konkurrenz hat er kaum noch. Er gilt als zuverlässig und gewinnt die Ausschreibungen.

Künftig will er alle Gefängnisse beliefern.

Er müsse die Produkte zu diesen Preisen verkaufe, sagt Werner Massak, der in seinem letzten veröffentlichten Geschäftsbericht für das Jahr 2019 eine Gewinnrücklage/Eigenkapital von rund 2 Millionen Euro (im Jahr davor rund 1,8 Millionen Euro) bei einem Umlaufvermögen von rund 4,4 Millionen Euro (im Jahr davor rund 3,6 Millionen Euro) ausweist.

Es würde viel Tabak bestellt (etwa 40 Prozent des Bestellvolumens), womit er kaum Gewinn mache. Und sein Aufwand sei groß: „Ich liefere ja nicht in einen Streichelzoo. Das muss erfasst werden. Dann muss es zusammengerichtet werden, auf die LKW gebracht werden, die LKW werden versiegelt. Dann fahren wir in die Anstalt, verteilen die Ware.“

Aber sind die Preise angemessen? Nein, sie überschreiten oft die Vorgabe durch das OLG Hamm.

In NRW gibt es einen belastbaren Maßstab für Nicht-Lebensmittel. Etwa Radiowecker, Wasserkocher oder Rasierer, die im Gefängnis ein kleines Stück Selbstständigkeit bedeuten. Solche Produkte sollen maximal zwanzig Prozent teurer sein als der Durchschnittspreis im Versandhandel, sagt das Oberlandesgericht Hamm.

In der JVA Werl liegt der Preis bei einer aktuellen Stichprobe für so einen Radiowecker 56 Prozent über dem Durchschnittspreis im Onlinehandel. Der Rasierer kostet 45 Prozent mehr. Die Preise liegen also über dem, was laut OLG Hamm angemessen wäre. Würden die Häftlinge der JVA Werl klagen, hätten sie wohl gute Chancen.

WDR-Reporter Philip Raillon zieht folgendes Fazit: „Fast überall in Deutschland arbeiten Häftlinge, ohne dabei ihre Haftkosten zu decken (pro Tag 136 Euro – Anmerkung der Redaktion). Hohe Preise im Knast und niedriger Lohn verhindern außerdem, dass sie für die Zukunft vorsorgen können. Viele bleiben arm – ein Leben lang. Knapp die Hälfte wird in den ersten drei Jahren rückfällig. Ein (teurer) Teufelskreis – auch auf Kosten der Steuerzahler.“

Ex-Gefängnisdirektor Dr. Thomas Galli sieht folgende Alternative: Gemeinnützige Arbeit und Fußfessel statt Gefangenenarbeit und Weggesperrtsein.

Dr. Thomas Galli sagte im Oktober 2020 dem Momentum Institut – Verein für sozialen Fortschritt in Wien: „Ich bin für gemeinnützige Arbeit als Hauptstrafe.“

Dr. Galli: „Ein Beispiel: Ein ehemaliger Mandant von mir hat sich betrunken an einem illegalen Autorennen beteiligt. Er hat einen Unfall gebaut und dabei einen Menschen getötet. Eine ganz schlimme Geschichte. Er wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt. Ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich verinnerlicht hat, was er getan hat. Jetzt sitzt er im Knast und ich frage mich: Wem dient das? Einen toten Menschen kann man nicht gutmachen. Das ist klar. Ich denke trotzdem, dass in diesem Fall gemeinnützige Arbeit etwa in einem Unfallkrankenhaus mehr dazu beigetragen hätte, dass er nie wieder betrunken fährt. Mit Anfang 20 ist er in Haft gekommen, mit Ende 20 kommt er frei. Perspektiven wird er dann mit der Vorstrafe kaum mehr haben.“

MOMENT.at fragte: „Gemeinnützige Arbeit statt Gefängnis – gibt es das in Deutschland schon?“

Dr. Thomas Galli: „Nur bei Ersatzfreiheitsstrafen, und auch dort wird sie kaum genutzt. Die Menschen werden selten informiert oder individuell motiviert.“

Teufelskreis: „Menschen müssen ins Gefängnis, weil sie kein Geld haben.“

Als Dr. Galli im Jahr 2020 sein neuestes Buch „Weggesperrt“ geschrieben hat, waren rund 1.000 Menschen in Deutschland in Haft, weil sie schwarzgefahren sind. Wie kann das passieren?

Dr. Thomas Galli: „Wenn Menschen eine Geldstrafe nicht zahlen, etwa für Schwarzfahren oder Falschparken, wird eine Ersatzfreiheitsstrafe verhängt. Die Leute müssen also praktisch ins Gefängnis, weil sie kein Geld haben. Fast ein Drittel davon ist obdachlos. Drei Viertel sind arbeitslos. Wenn man ohnehin schon am Rande der Gesellschaft lebt, kommt man schneller in Haft als man denkt.“

MOMENT.at: „In Österreich gibt es seit zehn Jahren den elektronisch überwachten Hausarrest, die Fußfessel.“

Dr. Thomas Galli: „Da ist Österreich ein Vorbild. In Deutschland gab zwar Modellprojekte, die wurden allerdings eingestampft.“

Dr. Galli: „Eines der größten Probleme am Gefängnis ist, dass die Gefangenen ihr soziales Umfeld verlieren, oft die Wohnung und sicher ihren Job, falls sie einen hatten. All diese schädlichen Nebenwirkungen einer Gefängnisstrafe können durch die Fußfessel vermieden werden. Das ist besonders wichtig für Eltern. Von einer Haftstrafe ist ja immer die ganze Familie betroffen. Wichtig sind beim elektronisch überwachten Hausarrest die begleitende Behandlung und Betreuung, etwa bei Drogensucht.“

Die Kommentare von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Justizvollzug als Reaktion auf die Plusminus-Ausstrahlung am 1. September 2021 zeigen eher kein Mitleid mit der Ausbeutung der Häftlinge durch den Staat.

„So viel Taschengeld für mich hätte ich auch gerne“

Eine JVA-Mitarbeitern schrieb am 2. September 2021 zur Gefangenenarbeit: „Inhaftierte verdienen genug Geld! Bei der obigen Überschrift rollen sich meine Zehennägel auf. Die Gefangenen kosten dem Land zig Millionen. Aufsichtspersonal, Fachdienste – wie Psychologen, Sozialarbeiter, Mediziner -, die dringend für die Resozialisierung gebraucht werden, verschlingen Unsummen von Steuergeldern. Also sorry, da ist der Gefangenenlohn aus meiner Sicht total ausreichend, zumal der Gefangene weder etwas für die Unterkunft, seine Nahrung, die medizinische Versorgung, Elektrizität oder andere Nebenkosten aufbringen muss. Soviel Taschengeld für mich hätte ich auch gerne. Und Ratenzahlungen zur Opferentschädigung sind da immer noch möglich.“

Der schlaue Massak

Zum Anstaltskaufmann Massak merkt sie an: „Schlau hat er es gemacht. Von einem kleinen regionalen Einzelhändler zu einem bundesweit agierenden Unternehmen. Der Kaufmann hat frühzeitig eine Marktlücke entdeckt und sich durch seine gute Organisation in den JVA’en etabliert.“

Rauchwaren, Drogen, Handys – aber kaum Wiedergutmachung

Ein Vollzugsmitarbeiter schrieb am 1. September 2021: „Die meisten Gefangenen geben ihr Geld für Rauchwaren aus, der Rest wird in Drogen oder Handys investiert, die im Gefängnis schwer zu bekommen sind. An das Bezahlen von Schulden, Wiedergutmachung oder Unterstützung der Frau und der fünf Kinder denken die meisten nicht.“

Gefangenenarbeit erinnere an Zwangsarbeit in dunklen Zeiten

Kommentatorin Elke Marfels kontert: „Häftlingsarbeit. Der Beitrag erinnert fatal an ein dunkles Kapitel der deutschen Vergangenheit (Stichwort Zwangsarbeit). Es ist nicht hinzunehmen, dass wieder Konzerne von der Arbeitsleistung Gefangener profitieren. Die inhaftierten Menschen sollten für Ihre Tätigkeit mindestens den Mindestbruttolohn erhalten. Abzüglich der üblichen Sozialabgaben + Lohnsteuer. Abzüglich des Sozialhilfesatzes für Unterkunft und Verpflegung.“

Mit Gefangenenarbeit Startkapital nach Haftverbüßung ermöglichen?

Elke Marfels schlägt vor: „Auszahlung eines Taschengelds in Höhe der Sätze für Bewohner sozialer Einrichtungen. So kann auch ein Rentenanspruch erworben werden. Der davon übrige Lohnbetrag wird angespart und bei Haftentlassung ausgezahlt. Ob sich Gefangene anteilig durch ihre Arbeit an den Kosten für ihre Betreuung zu beteiligen haben, erscheint mir fraglich, da Haftanstalten als Teil der Exekutive steuerfinanziert sind. Ein haftentlassener Mensch hätte somit nach einer 10jährigen Verbüßung seiner Strafe ein Startkapital von einer guten fünfstelligen Summe.“ (FM)